Kannst du sehen, was ich höre?
studentische Mitschrift, 1988-93
Die gestalterische Grundlehre an der bildo akademie war eng auf die bildmediale Grundlehre bezogen (und umgekehrt). Sie setzte sich aus mehreren Komponenten zusammen: Formen- und Farbenlehre, Kreativitätstraining, Ausstellungsdesign, Gestaltungsexperimente, Bewegungserfahrung (Kampfkunst) und ihre zeichnerische Transformation.
Letztere durchzog das gesamte vier- bzw. achtsemestrige Studium und ist insofern besonders erwähnenswert, weil sie nicht nur das klassische zeichnerische Naturstudium ersetzte, sondern Körpergefühl, Eigenwahrnehmung und Selbst- präsentation trainierte sowie einen harmonisierenden Ausgleich zur einseitigen Beanspruchung des Menschen durch das Bedienen technischer Medien schuf. Hier ergab sich auch der Ansatz einer Zusammenschau westlicher und östlicher Kulturtechniken, Denkweisen und Problemlösungen. Alle Teile, die bildmedialen und die gestalterischen, lassen sich rückblickend als "integrale bildo Grundlehre" zusammenfassen.
Die inhaltliche Kopplung von »Körperthemen« an die spezifischen Möglichkeiten bildnerischer Apparaturen kann methodisch über deren Eigengesetzlichkeiten stattfinden; zeitgemäße digitale Tätigkeiten wie Zerstückeln und neu Zusammensetzen (Fragmentierung) wären hier z.B. zu nennen, die das Studium der Form- und Farbgestalten im Kontext mit dem genannten Körper- und Erfahrungswissen befördern.
Flankierende Kenntnisse boten jene aus der Psychologie abgeleiteten, gestalttheoretischen Ansätze, die spezifisch auf mediale und visuelle Gegebenheiten bezogen sind. Zu nennen wären in diesem Kontext z.B. die den Aufnahmemedien immanente Zentralperspektive und die Richtung des Lichts im Zusammenspiel mit der Gestaltprägnanz, mit Figur-Grund-Prinzipien, doppeldeutigen Figuren, optischen/akustischen Form-, Figur-, Farb- und Bewegungsgestalten, Denk-, Handlungs- und Gefühlsgestalten, mit den Gestaltgesetzen der Nähe, Kontinuität, Ähnlichkeit, Geschlossenheit, des gemeinsamen Schicksals, der Erfahrung, immer in jeweiligem Bezug zu den medialen Raum- und Zeitphänomenen, der 25 Bilder/sec Rhythmus, die medienspezifischen Auflösungs-, Format- und Ausschnittphänomene im Zusammenhang mit Betrachtungsabständen usw.
Als gestalterische Instrumente im Rahmen einer auf Differenzierung basierenden Gestalt- und Farbenlehre sind zuallererst das Sensorium des eigenen Körpers, Papier, Karton, Schere, Kohle- und Ölpastellkreide, Fotogramm, mediale Projektion und Digitalprint zu nennen.
In dieser Aufgabenstellung wurde das Erleben einer Gipsabformung als 1:1 Darstellung eines Körperteils mit dem Erleben des Prozesses der fotografischen Abbildung
des gleichen Körperteils verglichen. Studierende wählen zunächst eine konkave Körperstelle eines Kommilitonen aus, um diese, nachdem sie gründlich mit Vaseline als Trennmittel präpariert wurde, mit Gipsbinden abzuformen. Eine konkave Körperstelle, z.B. die Mulde am Schlüsselbein, bietet den Vorteil im Gegensatz zur konvexen Form wie z.B. der Nase, dass die Gipsform nicht unmittelbar und oberflächlich mit dem Körperteil in Verbindung zu bringen ist. Der Abguss einer Nase wird immer sofort vordergründig als Nase zu identifizieren sein, während die konkave Form zunächst freier betrachtet werden kann.
Der Prozess des Abformens selbst ist mit einer Vielzahl von sinnlichen Eindrücken verbunden: Studierende berühren einander und empfinden, wie die Haut nass und dann warm wird, wenn der Gips abbindet, wie die Haut spannt, wenn der Gipsabguss abgenommen wird, wie einige Haare hängen bleiben etc. Anschließend wird die gleiche Körperstelle fotografisch inszeniert und dieser Prozess des Abbildens mit der der Gips-Abformung verglichen.
Die grundlegende Gestaltbedingung lässt sich auf diesen Satz bringen: Die Erfassung des Ganzen ist etwas anderes als die Erfassung der Relationen seiner Teile.
Diese Bedingung entzieht sich jeder Wertung, während der besonders in der Werbung verbreitete Slogan, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile, eine wertende Verschiebung darstellt. Studierende haben sich dieser gestalttheoretischen Grundbedingung in den folgenden Bildbeispielen auf zunächst einfachste Weise genähert.
Die Erfahrungen aus dem Rhythmus-Workshop flankierten die gestalterischen Übungen in Bezug auf den medialen Raum und die mediale Zeit.
Diese Bildreihen verdeutlichen die Methode des lateralen bildnerischen Denkens im Kontext intermedialer Konstruktionsprozesse.
Der Ausgangsgegenstand ist ein Fundstück, aber diesmal lediglich Bruchteil eines Fundstücks, genauer: ein Fragment im Sinne eines Objekts, nicht eines Bildes. Das jeweilige Objekt-Fragment wird anhand einer Aufgabenreihe ins Bild gesetzt und Schritt für Schritt analysiert und ergänzt, um schließlich in eine neue Form/ein neues Ornament, einen Fliesenentwurf, überzugehen. Die Einzelschritte bewegen sich zwischen Dekonstruktion, Rekonstruktion und Konstruktion: Diese Arbeitsschritte lassen sich analog und/ oder digital lösen. Bezüglich des komplexen Erfahrungsnetzes, das diese gern gebrauchen wir in diesem Fall den Ausdruck ganzheitliche Methodik evoziert, sei hier lediglich eine der Wirkungen benannt: es handelt sich um einen verlangsamten intermedialen Entwurfsprozess, der sich bis zuletzt durch Spannung, Kreativität und diverse Aha-Erlebnisse auszeichnet.
Sämtliche Werbeanzeigen aus aktuellen Tages-, Wochen- und Monatspublikationen wurden herausgetrennt
und in einem Atelier am Boden entsprechend ihrer Buntheit angeordnet. Was theoretisch niemand glauben will, nämlich dass sich diese Boden-Collage aus einem jeweils gültigen Trendfarbenspektrum zusammensetzt, das zum Ende einer Saison für die kommende ausgerufen wird und ohne seine Vervielfältigung durch Medien gar nicht möglich wäre, wird in diesem Experiment augenfällig. Haupt- und Nebentöne eines Trends werden in Art und Anzahl ihrer Verwendung im Werbekontext visuell-praktisch deutlich und nachvollziehbar. Wird diese Untersuchung über einen längeren Zeitraum immer wieder angestellt, z.B. auch bezogen auf Möbel- oder Einrichtungskataloge, lassen sich Rückschlüsse im Kontext mit den jeweiligen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen der verschiedenen Zeiträume und Kulturkreise ziehen. Angehende Designerinnen und Designer können sich u.a. mit diesem Scouting-Experiment das Bewusstsein für das größere Umfeld aneignen, in dem ihre Arbeit Bedeutung erhält. Unsere diesbezüglichen Experimente fanden 1989 und 1992 jeweils im Sommer statt. 1989 war der gestalterische Trend, bezogen auf Werbeanzeigen, noch überwiegend im Blautonbereich, 1992 dann kreiste er überraschender Weise im Feld der Rottöne.
Themen sind: Farbtrends, Aktualität, Zeitgeist, Farbforschung, Mut zur »Reinheit der Mittel«, Farbenpositionierung in den Medien, Farbe als Beitrag zu gesamtgesellschaftlichen Vorgängen und weitere.
Es lohnt sich, dieses Experiment im Abstand einiger Jahre mehrmals zu wiederholen.
Die sogenannten Primärfarben Rot, Gelb, Blau sind in der Malerei des 20. Jahrhunderts vielfach thematisiert worden. In einem sog. Farbenessen setzten sich Studierende mit
einfachen Mitteln der Wirkung dieser drei Bunttöne gezielt aus. Sie richten auf Tellern mit Hilfe von Bestecken rote, gelbe und blaue Dispersionsfarben zuerst einzeln an, dann nebeneinander, in diversen Mischungsmengen über- und ineinander und differenzieren die unterschiedlichen Dominanzen. Während dieser bunten »Mahlzeit« entwickelt sich ein reges Tischgespräch über Appetit, Reinheit, Geschmack, Gefühle und Farbmischungsverhältnisse. Auf den Tellern entwickeln sich Bilder, während diese wiederum ein gemeinsames Bildgeschehen im Raum ergeben. Das intensive Farbenessen-Erlebnis wirkt besonders bei ansonsten Medienschaffenden lange nach.
Themen sind: Primärfarben, Mischfarben, Körperfarben, Buntton grün, Farbhelligkeit, Farbe und Synästhesie, Präferenzfarben und weitere.
Das Blütenfarben-Experiment braucht Zeit, mindestens drei bis vier Monate. Nachdem die Beteiligten eine oder mehrere Schnittblumen ausgewählt und deren Blüten
insbesondere auf ihre Buntheit hin analysiert und beschrieben haben, wird den Blumen das Wasser entzogen, um den Trocknungsprozess einzuleiten. Dieser spannende Prozess ermöglicht beobachtbare Erkenntnisse über die täglichen Verwandlungen und Ableitungen von Grundtönen, über den Wechsel von gesättigten zu gebrochenen Bunttönen, über den Einfluss von Licht und Luft auf Bunttöne und über den völligen Verlust von Buntheit, d.h. über das Gegenspiel von Buntheit und Unbuntheit. Neben den Farbwandlungsprozessen inspirieren und sensibilisieren natürlich auch die vielfältigsten Formencharaktere der Blüten, Blätter, Stengel und ihre Veränderungen das gestalterische Feeling. Die Eindrücke in ihrer Gesamtheit regen zum Sortieren, Zeichnen, Mitteilen, Fotografieren, Digitalisieren, Vergleichen, zum Konstruieren neuer Farb- und Formkontexte an. Fazit: die Existenz von Bunt- und Unbunttönen in der Natur ist instabil; die »Töne« verändern sich, stehen in einem Austausch mit den Einflüs- sen ihres Umfeldes und richten sich nach den Rhythmen und Kreisläufen der Natur-Kultur. Ohne extra Plan ergibt sich schließlich das gemeinsame, im Raum manifestierte Resümee: eine Art Blüten-Mandala oder Farbenkreis am Boden, aus getrockneten Blüten und Blättern entwickelt. Es wird mehrfach modifiziert und eingehend betrachtet. Titel: Die Zeitlang. Bild, besser Relief, für die Dauer eines Experiments, das ganz nebenbei die Vorstellungen des Gegensatzpaares schön/hässlich und wertvoll/ unnütz im Thema führt und zugleich eine aufregende gemeinsame, temporäre Erfahrung manifestiert, die ausschließlich dem eigenen Erleben und der eigenen Inspiration dient.Themen sind: Farbtöne- und Formenverwandlung in Natur-Kulturkreisläufen, Buntheit/Unbuntheit, Farbe/Nichtfarbe, Farbhelligkeit, gebrochene Bunttöne, ästhetische Fragen, Zeiterleben im Kontext der Mediatisierung.
Der sogenannte Blueday bildete den Anfang einer Reihe von Farbentagen. Inhalt solcher Farbentage war die uneingeschränkte Konzentration auf einen einzigen
Buntton in allen möglichen seiner Varianten; in dem hier dokumentierten Fall geht es um den Buntton Blau. Das Experiment findet im Innenraum statt, dessen Dimensionen bereits bekannt sind und als Erfahrungswissen vorausgesetzt werden können. Neue Erfahrungen bezüglich der Raumwahrnehmung können so durch Vergleich bewusst werden. Dieser Vergleich wird weiter unterstützt, indem zunächst ein gemeinsames Bunttöne-Spektrumband bei normalem Raumlicht erarbeitet wird, in diesem Fall aus Werbeanzeigen-Ausrissen, die Magazinen entstammen. Es fungiert als Unterstützung für die genaue Wahrnehmung des einen Grundtons, der theoretisch u.a. Kühle und Unendlichkeit verspricht und auf der Skala der Lieblingsfarbtöne deutscher Frauen und Männer ganz oben steht. Im dann blau gefilterten Tageslicht (Filterfolie am Fenster) wird eine größere Weite des Raums wahrgenommen. Alles wirkt seltsam weitläufig, entrückt, beruhigt, im Vergleich mit der Erinnerung an die identische Situation ohne blaues Licht. Das Spektrumband ist nicht mehr farblich differenzierbar, wirkt vernebelt. Blaue Tisch- decken, blaue Maskeraden, blaue Bananen, blaue Kleider und Schuhe, blaues Geschirr und blaue Projektionen auf weißen Wänden lassen keine Ablenkung mehr zu und garantieren die für die Wirkung des Experiments unerlässli- che Konzentration auf den Blauton in seinen diversen Nuancen. Das Öffnen der Eingangstür nach Stunden und der Schritt nach draußen ans Tageslicht ermöglicht erste Erholung:
Der strahlend blaue Mittagshimmel und der gesamte Außenraum erscheinen wie in rötliches Licht getaucht. Nach und nach kommen all die anderen Bunttöne und auch der Blauton jetzt als einer unter anderen in die visuelle Wahrnehmung zurück.
Themen sind: Farbenspektrum, Buntton blau, farbiges Licht, Tageslicht, Kunstlicht, Komplementärfarben, Farbwirkung, Farbempfindung, Farbenpsychologie und weitere.
Der Tag des Bunttons Rot behandelte die Wahrnehmnung der Farbqualität anhand verschiedener Experimente und Erfahrungsberichte.
Der Schriftsteller Vladimir Nabokov berichtet in seiner Autobiographie vom Farbenhören, einer synästhetischen Gabe, über die er und seine Mutter gleichermaßen
verfügten. Künstler wie Nabokov, der Komponist Olivier Messiaen, die Dichterin Gertrud Kolmar und viele andere Künstler und Künstlerinnen berichteten von synästhetischen Wahrnehmungen. Hier ein Beispiel: »Was mir als erstes auffällt, ist die Farbe einer Stimme ... . Er hat eine krümelige, gelbe Stimme, wie eine Flamme, die ausfranst ... «, so beschreibt ein Synästhetiker die Verbindung seiner Stimm- und Farbenwahrnehmung, d.h. der gleichzeitigen Wahrnehmung, nicht Vorstellung, eines Geräuschs auf einer weiteren Sinnesebene. Die Synästhesie galt lange Zeit als Krankheit; in den letzten Jahrzehnten wurde sie dagegen zunehmend als ein besonderes menschliches Vermögen respektiert. Unseren Studierenden fiel immer wieder der Terminus Farb-Ton bzw. Farb-Klang als Kompositum auf; es interessierte sie, ob auch ohne diese angeborene Fähigkeit, über die Synästhetiker verfügen, gleichzeitige Wahrnehmungen auf differenten Sinnesebenen möglich sind, und ob sie bei den verschiedenen Menschen übereinstimmen würden, ob Regeln erkennbar würden. Die ihre eigene Wahrnehmung erforschenden zwölf »Probanden« wählten also einzelne Töne, z.B. ein tiefes C, oder auch ganze Musikstücke, u.a. von Schubert, aus und organisierten das gemeinsame Hören und seine Übersetzung in Farbtöne. Es war freigestellt, die »gehörten Klänge« (im doppelten Sinn) zu zeichnen oder auch mit Worten zu beschreiben oder ihnen zeichnerisch zusätzlich Formencharakter zu verleihen. Es hätten ja Synästhetiker unter uns sein können, auf deren Wahrnehmungen wir natürlich neugierig gewesen wären.
Die Auswertung des Synästhesie-Experiments ergab nur eine einzige, zunächst scheinbar verlässliche Gemeinsamkeit, die anhand unserer Zeichnungen und Kommentare evaluiert werden konnte: die Unterscheidung zwischen eher dunklen und eher hellen Fabtönen analog zu eher tieferen und eher höheren Klängen. Aber auch diese einzige Übereinstimmung traf nicht auf alle Teilnehmer-Wahrnehmungen des Experiments zu. Insgesamt war der Eindruck vielfältigster Wahrnehmungskontexte zwischen Klängen und Farbnuancen entstanden, der nicht auf den (eindeutigen) Punkt zu bringen war, egal um welche Klänge es im Detail ging. Ebenso verhält es sich mit der echten Synästhesie: Sie drückt sich von Person zu Person völlig individuell aus. Wissenschaftler zeigen sich von dieser ansatzweise erforschten Vielfalt beeindruckt. Um der Korrektheit willen sei aber noch betont, dass Synästhetiker diese Sinneskreuzungen und Parallelitäten nicht imaginieren bzw. assoziieren, so wie wir es in unserem Experiment versuchten, sondern dass sie sie tatsächlich empfinden, was für Nicht-Synästhetiker wiederum, wenn überhaupt, nur vorstellbar, aber niemals erfahrbar, nachvollziehbar, wahrnehmbar ist. Bezogen auf multimediale Anwendungen, die einen Wahrnehmungsprozess visueller, auditiver und u.U. taktiler Reize konstruieren, stellt das Experiment eine relevante Erfahrung dar: Der Gestaltungsspielraum lässt sich kaum durch Regeln, die dem Zusammenwirken der menschlichen Sinne entsprächen, auf einfache Weise begrenzen.
Diese Methode wirkte im Rahmen der Gestaltungslehre vielschichtig. Studierende erarbeiteten sich vom ersten Semester an eigenständig ausgewählte Einzelthemen
aus vorgegebenen gestalterischen Themenkomplexen, recherchierten dazu und führten zugleich praktische Experimente nach selbst entwickelten Ver- suchsanordnungen durch. Das dabei angeeignete Erfahrungswissen wurde in Form von gestalteten Präsentationen reflektiert und im Seminarkontext weitervermittelt. Die Grenzen zwischen reinem Erfahrungsbericht, Forschungsbericht, Referat, Workshop, Spiel etc. sind dabei fließend; Verbindungen zwischen Praxis und Theorie wirken am überzeugendsten. Erfahrungsberichte, wenn sie als solche benannt und erkannt werden können, transportieren auf besondere Weise die Persönlichkeit der oder des Vortragenden und haben daher selbstredend fast immer eine unterhaltsame Komponente. Vortragende fungierten zeitweise als Seminarleitung, während letztere in die Teilnahme wechselte; dieser Rollentausch wirkte fachlich und gruppendynamisch sehr produktiv und bereitete Studierende auf die kommerzielle Praxis vor, wo Vermittlung und Präsentation, gerade im Medienbereich, von besonderer Bedeutung sind.
Die Auflösung traditioneller einseitiger Rollen und Mechanismen im Lehr- und Lernprozess lässt sich mit der Methode der Erfahrungsberichterstattung auf motivierende Weise für alle Beteiligten realisieren. Die Erfahrungsberichterstattung erfüllt einen Teil der immer wieder propagierten Praxisnähe im Studium, wenn sie methodisch verstanden und praktiziert wird. Als Methode ist sie den explorativen und konstruktiven Lehr- und Lernformen verpflichtet.
Gerade auch in medialen bzw. medial gesteuerten Lehr- und Lernprozessen haben wir uns mit der Veränderung der Rollen zwischen Lehrenden und Lernenden auseinanderzusetzen.
Das Training einer chinesischen Kampfkunst bildete einen essentiellen Baustein für die Konzeption der gestalterischen Grundlehre.
In diesem Kontext befassten wir uns mit der zeichnerischen und medialen Übersetzung von Bewegungserfahrung als einer wesentlichen Methode im mediengestalterischen Studium. Denn Kampf- und Bewegungskünste sind als Grundlage für die zeichnerische und mediale Übersetzung von Bewegungserfahrung besonders geeignet. Die Kette lautet Eigenwahrnehmung - Transformation - Gestaltung.
Das Studium des Mediendesign und der Medienkunst beinhaltete u.a. ein vierjähriges, wöchentlich stattfindendes Kung Fu Training.
Nach dem Vorbild japanischer Universitäten, die den Studierenden über das geistige Studium hinaus eine Karate-Ausbildung vermitteln, um den Ausgleich zum reinen »Bücherstudium« herzustellen, bietet die bildo Akademie für Kunst und Medien ihren Studierenden die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten a l l s e i t i g zu üben und zu erkennen.
Kung Fu oder auch Taijiquan sind als sehr alte und besonders vielseitige asiatische Kampfkünste deshalb gut geeignet, den kinästhetischen Sinn, die Tiefensensibilität zu schulen, weil ihre wesentlichen Elemente (Gleichzeitigkeit der Gegensätze, Raum und Rhythmus, Konzentration, Intuition, Überwindung der Schwerkraft/Qi Gong) viele Formen des Raumzeit-Erlebens in der Bewegung thematisieren und so eine subjektive gestalterische Übersetzung ins zwei- und dreidimensionale Visuelle geradezu herausfordern. Die mit Hilfe des eigenen Körpers bewusst übersetzten Vorgänge können unmittelbar zur Entdeckung des individuellen Ausdrucks, der künstlerischen »Sprache« führen. Im Rahmen des bildo Curriculums bildet das konkrete Kung Fu Training als Baustein der Gestaltungslehre den Gegenpart zur abstrakten C-Programmierung als Baustein der Medienpraxis. Die Ausbildung des Bewegungsinstrumentariums, der Propriozeption bzw. Eigenwahrnehmung, ist Teil der Gestaltungslehre des Mediendesign- und des Medienkunst-Studiums. Unmittelbare körperlich-sinnliche Erfahrung wird zur Grundlage des räumlichen Denkens, der Ausbildung von Vorstellungskraft, des Abstraktions- und Differenzierungsvermögens, die in anderen Teilen des Fächerkanons wiederum Voraussetzung sind und gebraucht werden.
Mediendesign- und Medienkunst-Studierende, die im Lauf des Studiums ein vierjähriges Kampfkunst-Training absolviert haben, sind sich ihrer selbst, ihrer Individualität bewusst. Sie können sich den Anforderungen des Berufes gelassen stellen, der ja vor allem von ihnen die P r ä s e n t a t i o n ihrer Idee, eines Teils ihrer selbst, nach außen verlangt. Sie besitzen Überzeugungs- und Darstellungskraft, sind in der Lage, Energien achtsam zu dosieren, kennen das Zusammenspiel von Denken, Fühlen, der sinnlichen Wahrnehmung und der Bewegtheit als deren Ausdruck. Sie sprechen eine persönliche und verständliche Sprache. Sie begegnen der eigengesetzlichen Fragmentierung medialer Zustände auf der Basis reflektierter Selbsterfahrung und -erkenntnis.
Die zeichnerische Übersetzung von Bewegungserfahrung aus den asiatischen Kampfkünsten war bei bildo eine grundlegende Methode für das mediengestalterische Studium.
Die asiatischen Kampfkünste, die im Taoismus ihren Ursprung haben, sind u.E. auf Grund ihres Jahrtausende alten und umfassenden Bewegungssystems, das nachhaltig erforscht und getestet ist, besonders zur Eigenwahrnehmung und zur zeichnerischen Transformation geeignet. Dabei geht es weniger um die ideologische und spirituelle Übertragung als um die aus der Natur abgeleiteten Prozesse.
Die zeichnerische Bewegungstransformation bildet, so wie wir sie in der bildo akademie entwickelt haben, eine zeitgemäße Alternative zum traditionellen Naturstudium. Dies wird über das Studium der visuellen Wahrnehmung hinaus um die Reflexion innerer Zusammenhänge und Kräftespiele, die am eigenen Leib erfahren werden, erweitert. Kurz: Kern dieser Übungen ist eine Übersetzung des kinästhetischen Sinns im Besonderen und der sinnlichen Wahrnehmung insgesamt ins Visuelle. Die reduzierte Sehschule wird zur Bewegungs- und Sinnesempfindungsschule. Studierende erleben den entsprechenden Transformationsprozess, die zeichnerischen Übungen mit Spannung und bringen ihre Erfahrungen im Lauf des Studiums ganz allmählich thematisch direkt oder eher indirekt in die bildmediale Arbeit ein. Der Unterschied zu den gängigen gestalterischen Studien besteht darin, dass dieser Teil unseres Konzepts nicht in erster Linie das perspektivtreue Zeichnen bezweckt, um des Abbildens der Natur oder des Studiums optischer Täuschungen und der Gestaltgesetze willen, sondern die subjektive Erforschung innerer Bezüge zwischen (Bild)erscheinung und (Bild)erfahrung fördert; eine Art Studium der Eigenwahrnehmung oder auch der Propriozeption, als Voraussetzung für die Sensibilisierung der Außenwahrnehmung. Moderne Bildgestalterinnen und -gestalter bewegen sich heute mehr oder minder ausbalanciert in diesem Bezugsfeld zwischen Eigen- und Außenwahrnehmung. Die Kultivierung des kinästhetischen Sinns (in Form eines begleitenden Kampfkunststudiums) und seine zeichnerische Übersetzung als Gewicht gegen die wachsende Abstraktion der Arbeit an und mit transklassischen Maschinen (Computern) betrachten wir als relevante Aufgabenstellung in nachmodernen Designfeldern.
Was anderes sind gestalterische Phänomene wie Gleichgewicht und Rhythmus als Ausdruck von Energien unseres kinetischen Vermögens? Dieser energetische Ausdruck kann über das erweiterte zeichnerische Bewußtsein widerum Eingang in technische Bilder finden. Wir wissen uns mit der so beschriebenen Methode in der Fortschreibung und Erweiterung klassisch-moderner Traditionen: angefangen von den großen Bauhaus-Künstlern und -Lehrern Itten, Klee, Kandinsky über Kepes, das New Bauhaus und die Ulmer Hochschule für Gestaltung bis zu Joseph Beuys und Designern, Architekten, Künstlern und Wissenschaftlern, die das zu Gestaltende, und auch das Funktionale als ein offenes System mit dynamischen Zügen annehmen und konstruieren. Der Architekt Daniel Libeskind steht hier besonders für eine Arbeitsweise, die auch die eigene Lebenserfahrung bewusst in Gestaltung übersetzt. Beuys z.B. schlug vor, Formen- und Farbenlehre in der Ausbildung von Kunststudierenden um eine Energielehre zu erweitern. Gerade für das Mediendesign und die Medienkunst liegt hier eine besondere Herausforderung, die in kommenden Studienprogrammen berücksichtigt werden sollte, wenn das Biophile auch im Informationszeitalter noch oder wieder Relevanz haben soll. Wie Designerinnen, Designer, Künstlerinnen und Künstler über die Schärfung ihrer elementaren fünf Sinne hinaus heute systematisch weitere Sinnes- und Wahrnehmungsdimensionen erforschen und entwickeln könnten, würde diese Betrachtung überfrachten, soll hier aber wenigstens erwähnt sein und anhand einiger ausgewählter Beispiele angedeutet werden (s.a. Wolf Kahlen, Innerer und äußerer Raum, Berlin 2002).
Die Bildbeispiele zeigen Studienarbeiten zur zeichnerischen Bewegungstransformation. In der Bewegungstransformation wird das Erleben der eigenen Bewegungen, der eigenen Bewegungswahrnehmung aus dem regelmäßigen Martial Art-Training wie z.B. Kung Fu oder Taijiquan zeichnerisch übersetzt. Dabei geht es nicht um das visuelle Erfassen einer Bewegung, also darum, wie jemand sich dem Augenschein nach im Raum bewegt, sondern um die Reflektion der eigenen, also nicht sichtbaren Bewegungserfahrung und der energetischen Prozesse. Die gestalterischen Phänomene und Kontrastpaare wie Gleichgewicht-Ungleichgewicht, schwer und leicht, schieben und ziehen, Raum geben und Raum nehmen etc. werden aus dem eigenen Erleben heraus visuell beschrieben. Dieser Prozess der Transformation von Bewegungserfahrung zunächst ins Zeichnerische und dann ins Mediale der stehenden und bewegten Bilder bildet die Bedingung für eine am Menschen orientierte Wahrnehmungslehre und Produktionsweise im Medienkontext. An der Oberfläche orientierte Abbildungen bleiben uns so erspart.
Im Mittelpunkt der Betrachtung stand, wie in der Bewegungstransformation, auch bei diesem Experiment die eigene Wahrnehmung.
Der zu untersuchende Gegenstand ist ein Weg, in diesem Fall der Weg von der eigenen Wohnung zur Hochschule, der nicht als kartografische Abbildung, sondern als Erfahrungsraum unter dem Eindruck der unterschiedlichsten Sinneswahrnehmungen wiedergegeben wird. Die Wege werden z.B. unter dem Sinneseindruck von Geräuschen oder Gerüchen betrachtet und in zeichnerische Beschreibungen übersetzt.
Die unterschiedlichen Arten der Fortbewegung wie zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad, der U-Bahn oder dem Auto fahren bringen verschiedene Zeitwahrnehmungen hervor. Wenn diese unter Einbeziehung der genannten Sinneseindrücke gezeichnet werden, entstehen Bilder, die vom reinen Abbilden des nur Sichtbaren weit entfernt sind. Es entstehen keine Abbilder einzelner Wegabschnitte (wenngleich die Anmutung kartographischer Wegformen wie von selbst einfließt), sondern Ausdrücke individuellen Erlebens. Diese Arbeitsmethode führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem darzustellenden Gegenstand bzw. Bewegungsraum, jenseits der sonst dominanten Visualität. So kann durch diesen Wechsel der Wahrnehmungsperspektive, von der Erweiterung der visuellen um die auditiven und/oder olfaktorischen Wahrnehmungen in der Zeit, Bewusstsein in die Darstellung der Gegenstände und Räume einfließen. Ein methodisches Repertoire kann sich so entwickeln, das die kreativen Möglichkeiten um ein Vielfaches erweitert.