Kung Fu und Betacam. Die private bildo Akademie für Kunst und Medien in Berlin vermittelt seit sechs Jahren Fachkompetenz in Sachen Ästhetik und Technik.
screen Multimedia, frb, 1994
Taijiquan gilt als Ursprung der asiatischen Kampfkunstformen wie Kung Fu oder Karate und wird in den sog. Martialischen Künsten in China dem Faustkampf der Inneren Schule zugerechnet. Diese Innere Schule entwickelte sich etwa im 13. Jahrhundert in Hubei/China (Wudang Berg). Der Faustkampf der Äußeren Schule, deren bekannteste Kampfart der Shaolin Faustkampf bzw. das Shaolin Kung Fu ist, wurde ursprünglich in Honan/China (Schaolin Tempel) entwickelt. Der Begriff Faustkampf (quan = Faust) steht in diesem Zusammenhang für den Kampf mit bloßen Händen, im Gegensatz zum Kampf mit Waffen.
Im klassischen Taijiquan, der sog. Inneren Form der Kampfkunst, geht es um die Vereinigung von Himmel und Erde (Yin und Yang) mit dem Körper als Mittler und Medium. Durch die körperliche Bewegung, die Entfaltung des Körpers und die Lenkung des Qi durch die Imagination wird die Verbindung des Geistes mit dem Universum angestrebt.
So verstanden diente Taijiquan nicht nur dem Besiegen eines Gegners, sondern auch der Verlängerung des Lebens, der Gesundheit. »Das Verbindungsglied im Taijiquan zwischen der Technik zur Verlängerung des Lebens und der Kampftechnik liegt in der Anwendung der wesentlichen Energie Jing. Faustkämpfer/ innen kämpfen nicht in erster Linie mit ihrer Muskelkraft, sondern setzen ihre wesentliche Energie gegen die jeweiligen Opponenten ein. Taiji Faustkämpfer/innen betrachten ihre Gegner/innen nicht als Feinde, sondern als ihre Ergänzung. Die Bewegungen des einen Partners/der einen Partnerin gehen aus denen des oder der anderen hervor. Der kontinuierliche Wechsel von Gegensätzen wie Schnelligkeit und Langsamkeit oder Öffnen und Schließen bedingen einander, Quadrat und Kreis bringen einander hervor, Härte und Weichheit unterstützen einander« (Ute Engelhardt). Dies sind genau die grundlegenden Gestaltungsregeln, die wir auch zur Bildkomposition einsetzen. Während der Körper entfaltet wird, d.h. die Gelenke geöffnet werden, damit das Qi in den Meridianen ungestört fließen kann, soll das Bewusstsein in die Bewegung einfließen und das Qi durch die Imagination geführt werden. Die Imagination ist der Ausdruck des Bewusstseins. Die kulturelle Erweiterung des Bewusstseins führt zur Intensivierung der imaginativen Kräfte. Wie im Taijiquan das Qi durch die Imagination geführt wird, so wird im medialen Gestaltungsprozess die kreative Handlung durch die bewusst eingesetzte Vorstellungskraft gelenkt. Die Kenntnis der inneren energetischen Zusammenhänge der medialen Gestaltung kann über das Bewusstsein in die Bilder einfließen. Wie das Taijiquan die Wandlungen des Qi in der Bewegung zum Ausdruck bringt, so gewinnen auch bildnerische Gestaltungsprozesse an Ausdruck, wenn in Bildern, auch in technischen, die energetischen Wandlungen im Gestaltungsprozess durch Bewusstsein und Erfahrung reflektiert werden.
Die zu gestaltende Substanz, im Taijiquan das Qi, in den digitalen Medien der digitale Code, ist in beiden Fällen immaterieller Natur. Beide basieren auf einem dualen System. Das eine auf dem Yin-Yang-Prinzip, das andere auf dem digitalen Code von Null und Eins. In beiden Systemen haben wir es also mit immateriellen Gestaltungsformen zu tun. Während in den digitalen Medien die Zeit durch Zerstückelung und Fragmentierung beschleunigt wird und der Raum sich auflöst, werden im Taijiquan die einzelnen Bewegungen in einem unendlichen, gleichmäßigen Bewegungsfluss verbunden.
Taiji sensibilisiert uns, so gesehen, für die Zeit und die Beziehungen, die der Faktor Zeit auf alles andere ausübt. Die Zeit wird verlangsamt, so dass sich die Bewegungsform im Raum ausdehnen kann. Je langsamer die fließende Bewegung ausgeführt wird, je mehr Zeit für Bewegungserfahrung und ihre Transformation ins Bildnerische eine zeitgemäße Form des Naturstudiums die Bewegung verwendet wird, desto mehr kann sich der Raum entfalten, und umso mehr Einzelheiten können in Erscheinung treten und wahrgenommen werden (vgl. Luc Thèler). Die Wahrnehmung in der gedehnten Zeit des Taiji steht der in der verdichteten Zeit der Medien gegenüber; vergleichbar dem fast unendlichen Detailreichtum des Makro- und Mikrokosmos und der Übersicht des orbitalen Blicks auf die Welt.
Im gleichmäßigen Bewegungsfluss des Taiji kann Gegenwart entstehen (ähnlich der Kamerafahrt in dem Kinofilm »Panic Room«, s.u.), eine Art Gegenwartscontainer, an dem die medial beschleunigte Zeit vorbeizufliegen scheint.
Mit Hilfe von Visual Effects in modernen Kinofilmen werden diese Dimensionen der Raum- und Zeitwahrnehmung oft beeindru- ckend in magischen Bildern inszeniert. Geraffte Zeit wird durch beschleunigte computeranimierte Kamerafahrten bis zum weichen Einfrieren der Zeit in einer Art Super-Slow Motion in einem einzigen Bewegungsablauf dargestellt. Diese visuellen Effekte, die mit der Zeitdimension gestalten, haben ihren Ursprung in der Chronophotographie, die auf Eadweard Muybridges Bewegungsstudien zurückgeht und heute als Timeslice-Verfahren oder Bullet-time-Effekt in Werbespots und durch Kinofilme wie »Matrix« bekannt geworden sind. Zu diesem Zweck wird eine größere Anzahl von Kleinbild-Fotoapparaten in einem Halbkreis um die Szene herum angeordnet und synchron ausgelöst. Mit 24 Kameras z.B. kann so eine Szene eine Sekunde lang, von den verschiedensten Seiten sichtbar, eingefroren werden. Längere Szenen benötigen entsprechend mehr Kameras. Am Computer werden dann die Übergänge zwischen den eingefrorenen Standbildern berechnet und der Hintergrund der Szene, die zuvor im Bluescreen- oder Greenscreen-Verfahren aufgezeichnet wurde, einkopiert. So kann im Ergebnis die Abspielgeschwindigkeit einer Szenenfolge beliebig manipuliert werden, von der gerafften Zeit bis zur eingefrorenen Zeit in einer einzigen Szene, ohne dass diese an Klarheit oder Schärfe verliert.
In Filmen, in denen mit der Gestaltung der Raumdimension gearbeitet wird, wird der Raum mit der Kamera durchdrungen, oft fast seziert. Virtuelle, am Computer generierte Kamerafahrten kennen, wie in David Finchers Film »Panic Room« keine Größenunterschiede mehr. Fotorealistisch durchdringt die virtuelle Kamerafahrt Räume, trennende Wände und Decken und fährt mühelos von der Makroaufnahme, die das Innere eines Türschlosses zeigt, bis zur Totale, die den Raum überblicken lässt. »Die Spielhandlung des Films ist auf die relativ kurze Zeitspanne einer Nacht beschränkt, das Setting bleibt während des gesamten Films das gleiche eine mehrstöckige Villa im Herzen Manhattans. (
) Fast hat der Zuschauer das Gefühl, dass die Zeit an diesem Ort nicht nur langsam, sondern gar nicht voranschreitet. Wie in einem Modell scheint sie gänzlich stillzustehen« (Sebastian Richter). Die alles Materielle negierende Kamerafahrt macht die Zeit wie in einer fließenden Taijibewegung zur reinen Gegenwart.
Das Ziel der alten Legenden und Kampfgeschichten der fernöstlichen Philosophie war es, Körper und Geist in der Kampfkunst zu vereinen, die körperlichen Fähigkeiten zu reinem Geist zu transformieren. Den Feind nur mit der Kraft der Gedanken, der spirituellen Energie, zu besiegen, war das Ziel der alten Meister in den Filmen. Moderne Montagetechniken, verbunden mit digitalen Effekten (CGI) der Computeranimationen, machen diese Transformationen des Körpers in die Transzendenz des Geistes in Bildern möglich. Sie heben die Trennung von Geist und Körper in beeindruckender Visualität auf. Wir kommen vom Tanz der Körper zum Tanz der Bilder, die völlig instrumental sind. So wird der alte Wunsch, den Körper mit dem Geist zu verbinden, ja zu überhöhen, um in der Vervollkommnung den Kampf mit dem Geist auszutragen, mit den Gestaltungsmitteln der digitalen Technologien zumindest visuelle Realität. Die Bewegung der Körper wird in Sekundenbruchteile fragmentiert und am Computer zu neuen Choreografien zusammengefügt und in übersinnliche Sphären transformiert. Die Raum-Zeit-Dimensionen werden in den digitalen, »magischen Bildern« aufgelöst. Körper schweben schwerelos im Raum. Den Kampf nur mit der Kraft der Gedanken, der spirituellen Energie auszutragen, ist zunächst für das Bildmedium Kino denkbar ungeeignet. Erst durch einen Trick im Drehbuch des Films lassen uns die Filmkünstler/innen die übernatürlichen Bilder und Actionszenen plausibel erscheinen. Sie verlagern einfach Teile der Handlung in eine Welt, die zwar normal aussieht, aber zuvor als künstlich deklariert wurde. So stehen sich in dem Martial Art-Film »Hero« die Protagonisten mit geschlossenen Augen gegenüber, während sie den Kampf mit der Kraft ihrer Gedanken austragen, den der Regisseur den Zuschauern in spektakulären, den Gesetzen der Physik trotzenden Actionszenen präsentiert. In der »Matrix«-Trilogie ist es die künstlich konstruierte Welt als Computerprogramm, die den Raum frei gibt für neue Ideen und magische Bilder und Actionszenen.
Es geht also in unseren Überlegungen entsprechend nicht um das Abbilden der empirischen Realität im Cyberspace, um die Reduktion auf die Oberfläche, sondern um die Reflektion der inneren Zusammenhänge, die Sichtbarmachung der agierenden Kräfte und Energien, der individuellen Erfahrung und deren Transformation ins Bildmediale. Gestalterische Phänomene wie Gleichgewicht und Rhythmus sind letztlich Ausdruck dieser Energien unseres kinetischen Vermögens. So wie die Mathematik (Geometrie, Statik) die unsichtbare innere Struktur der Architektur bildet, so bildet der digitale Code die innere Struktur für unser mediatisiertes Welterleben. Es geht also im Taijiquan, in der Architektur, im Design um die Reflektion der inneren Zusammenhänge und der agierenden Kräfte, damit Gestaltung substanziell zum Ausdruck kommen kann. Eben in Körperbewegungen, in Form von Gebäuden (Räumen) und auch in den digitalen Medien.
Die folgenden Bildbeispiele zeigen eine Wegtransformation, von der Bellermannstraße 1 zur Althoffstraße 0 (bildo akademie) in Berlin.
Visualisiert worden sind fünf einzelne, die sinnliche Wahrnehmung des Autors anregende Wegstationen mit analogen und digitalen Techniken (Zeichnungen, Fotografien, Computerprints und Composing). Der gesamte Arbeitsprozess schließt in sechs Arbeitsschritten die Erfahrungen und Methoden aus zwei Seminaren zusammen: »Zeichnerische Bewegungstransformation« und »Technische Bilder als Produktionsmaterialien«:
- Gegenüberstellung von zwei Bildern mit geringem Abstand
- Gegenüberstellung von zwei Bildern mit großem Abstand
- Berührung von zwei und mehr Bildern
- Überlagerung von zwei Bildern
- Verschachtelung mehrerer Bilder
- Transparenz zwischen Bildern
Dieter Jaufmann und Frank Paul, 1991
00:02:10 S-VHS
Sit up thematisiert die physische Unbe- weglichkeit des mo- dernen Menschen und könnte gleich- zeitig als Werbespot für Kung Fu verstan- den werden.
Andrea Grosse-Leege und Claudius Lazzeroni, 1990
00:02:58 S-VHS
Thomas Kemnitz und Wolf Gresenz, 1994
00:02:18 Betacam SP
Die Bewegungen und Geräusche eines Kung Fu-Meisters verlieren sich im medialen Kampf gegen sich selbst. Er überlässt sie den Editoren. Sie generieren ihn neu als vielschichtiges digitales Muster.